Stärken stärken, Schwächen schwächen – mein Einblick in den zweiten Arbeitsmarkt

2 IMG 4240

Zierkürbisse ernten und Weinflaschen etikettieren? Richtig gesehen! Anja Riedle von SBB Cargo konnte einen SeitenWechsel-Einsatz in der Martin Stiftung absolvieren. Dort leben und arbeiten rund 170 Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung. Ihre Arbeit gibt ihnen Struktur im Alltag und ermöglicht ihnen ein (fast) normales Leben. Und: Sie stärkt sie in ihren Fähigkeiten, aber auch in ihrem Selbstbewusstsein und Selbstwert. Anja Riedle berichtet über ihren Einsatz:

«Eine Woche lang durfte ich mit den Kolleg:innen u.a. für einen Weltmarktführer unzählige Nägel in Dübel stecken und für eine Bank eine Grosslieferung von 20’000 Werbegeschenken einzeln(!) abzählen und in 10er-Packs einschweissen.

Diese Arbeiten liessen sich längst automatisieren, aber die Auftraggeber entscheiden sich bewusst dagegen – zum Glück, denn es gibt dankbare Abnehmer, so wie in der Martin Stiftung, deren Bewohner:innern sonst wortwörtlich «arbeitslos» wären, da sie auf dem ersten Arbeitsmarkt leider keine Chance haben.

Ich bin immer noch tief beeindruckt vom Blick in den zweiten Arbeitsmarkt, der einem sonst verborgen bleibt. Es gibt einige Parallelen zum ersten Arbeitsmarkt:

  1. Ressourcenorientierung: Stärken stärken, Schwächen schwächen – die Arbeitsagogen schauen individuell, wer was am besten kann und fördern die Mitarbeitenden im Rahmen ihrer Möglichkeiten. So kann sich jede:r entfalten und das Team als Ganzes optimal funktionieren.
  2. Diversität: Die individuellen Fähigkeiten und Bedürfnisse variieren aufgrund der Krankheitsbilder stark. Bei Einer ist die Kunst, die Hyperaktivität in die Arbeit fliessen zu lassen, beim Nächsten die Umgebung so abzuschirmen, dass er überhaupt arbeiten kann.
  3. Inklusion: Die Tätigkeiten werden in Einzelschritte gestückelt, damit sie möglichst jede:r eigenständig bewältigen kann, wie im Sinne eines kleinsten gemeinsamen Nenners. Manche werden immer nur Dübel zählen, andere auch die Schachteln falten, schliessen und etikettieren.
  4. Qualität: Die Auftraggeber dürfen die gleiche Qualität erwarten wie auf dem freien Markt. Daher sind in der Werkstatt viele(!) Waagen im Einsatz, um die Mengen immer wieder aufs Gramm genau zu kontrollieren.
  5. Produktivität: Heute werden Menschen früher aus dem ersten Arbeitsmarkt ‘aussortiert’, weil die Anforderungen und das Tempo gestiegen sind. Diese ‘Schwachen’ vom ersten Arbeitsmarkt sind die ‘Starken’ im zweiten Arbeitsmarkt. Teils hadern diese Grenzfälle zwar mit ihrem Wechsel, können in Einrichtungen wie der Martin Stiftung aber besser an ihren Aufgaben wachsen und sich vielleicht eines Tages sogar wieder zurück in den ersten Arbeitsmarkt entwickeln.

Besonders bleibt mir die Lebensfreude der Kolleg:innen trotz teils schwieriger Umstände und die Leidenschaft für ihre Arbeit, die sich auch bei den Fachmitarbeitenden durch alle Ebenen zieht. Ich bin dankbar für die vielen Begegnungen und froh, dass mir SBB Cargo und SeitenWechsel diesen Einsatz ermöglicht haben.»